Wann immer in den letzten Jahren eine neue Technologie, eine neue Kommunikationsplattform oder eine neue Infrastruktur die Märkte erreichte, ergaben sich für das Marketing vielfältige Veränderungen. Zwar traten nur in wenigen Fällen echte, nachhaltige Substitutionseffekte zu bestehenden Ansätzen ein, aber die neuen Herausforderungen forderten in jedem Fall gezielte bis weitreichende Anpassungen in Unternehmen.
Aktuell rollt die nächste Welle des technologischen Wandels auf Märkte und Unternehmen zu. Unter dem Schlagwort „Artificial Intelligence“ werden für die nicht allzu ferne Zukunft Szenarien diskutiert, in denen Maschinen nicht mehr nur repetitive und unproduktive Aufgaben übernehmen, sondern als intelligente Einheiten eigene Lernprozesse nutzen, neues Wissen generieren oder sogar kreative Lösungen entwickeln. Die Konsequenzen dieser „Brave New World“ sind kaum abzuschätzen und die Reaktionen reichen von Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bis hin zu Warnrufen vor einer drohenden Machtübernahme durch Roboter.
Mit den Folgen der Artificial Intelligence müssen sich in einer zunehmend vernetzten Gesellschaft natürlich auch Unternehmen
beschäftigen. Das Thema ist aber gar nicht grundsätzlich neu. Vielmehr folgt die zunehmende Datenverwendung im Marketing einem Entwicklungspfad, der sich grob in vier Phasen unterteilen lässt:
- Rule-Based-Marketing: Spätestens seit den ersten Gehversuchen des One-to-One-Marketings wenden Unternehmen bereits Heuristiken und Regelwerke an, um aus den Daten individueller Kundeninteraktionen nächste Maßnahmen und Incentives abzuleiten. Vorreiter in Analytik und beim Aufbau datenbasierten Kundenwissens war insbesondere der Versandhandel.
- Data-Driven-Marketing: Die gesammelten Kundendaten nutzten Unternehmen zunehmend als Entscheidungsgrundlage. Im Vorteil waren dabei vor allem die datenintensiven Industrien. Zum Beispiel standardisierten Banken und Finanzdienstleister mit Customer-Equity-Modellen und formelgestützten Prozessen die datenbasierte Kundenbetreuung.
- Marketing Automation: Auf das rein analytische Datenverständnis folgte ein handlungs- und automatisierungsorientiertes Umdenken im Marketing. Nun lösen Algorithmen auf Basis von Datenkonstellationen und Indikatoren weitgehend eigenständig spezifische Aktionen in der Anbieter-Kunden-Interaktion aus, wie die Anzeige personalisierter Suchergebnisse, Buchvorschläge oder Werbung.
- Machine Learning: Auf der höchsten – und heute in manchen Fällen noch als Zukunftsmusik zu bezeichnenden – Entwicklungsstufe steht das maschinelle (und vom Menschen unabhängige) Lernen. Wenngleich Beispiele wie Watson von IBM, Hana von SAP oder Deep Blue von Google die Tragweite der zukünftigen Datenverwendungsmöglichkeiten bereits erahnen lassen, stecken viele Ansätze noch in den Kinderschuhen – gerade im Marketing. Die Entwicklungsgeschwindigkeit des Themas sollten wir als Marketeers aber trotzdem keinesfalls unterschätzen. Auch Rechtsanwälte hätten wohl nicht erwartet, dass IBM Watson mit dem maschinellen Gehilfen „ROSS“ ihnen die Suche nach Präzedenzfällen und damit auch eine wichtige Ertragsquelle abnehmen würde.
Die Ihnen vorliegende Ausgabe der Marketing Review St. Gallen diskutiert die Themen „Automation“ und „Machine Learning“ im Marketingkontext aus praktischer und konzeptioneller Sicht. Die Autoren geben Einblicke in spezifische Herausforderungen
oder generelle Hinweise zum Umgang mit dem Thema in Unternehmen und Forschung. Sicherlich bleiben bei einem so jungen Thema noch vielfältige Fragen offen. Es ist aber an der Zeit, die Diskussionen stärker zu gewichten. Dazu wollen wir mit dieser Ausgabe einen ersten Beitrag leisten.
Prof. Dr. Marcus Schögel