In den letzten Jahren haben nur wenige Themen eine solche Dynamik erfahren wie die Debatte um „Artificial Intelligence“ (AI). Sicherlich ist dieses Thema für Fans von Science-Fiction-Romanen und Filmen nichts Neues. Spätestens seit dem Computer „HAL“ im Film 2001 Odyssee im Weltall wird die Frage, ob Maschinen einen Verstand oder eine Seele haben können, diskutiert. Ähnlich verhält es sich mit den theoretischen Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten der AI. Die Forschungen zum Deep Learning an der ETH liegen ebenfalls inzwischen mehr als zehn Jahre zurück.
Die aktuelle Debatte wird jedoch von neuen Realitäten getrieben. Wenngleich eine generelle AI im Sinne eines Substituts umfassender menschlicher Intelligenz noch etwas auf sich warten lässt, sind bereits heute entsprechende Vorboten zu erkennen:
- Die Lerngeschwindigkeit der AI-basierten Agenten hat massgeblich zugenommen. Komplexe und vielschichtige Romane werden inzwischen akkurat übersetzt, und Google-Translate hilft, fremde Sprachen ad hoc zu übersetzen.
- Kreativ anmutende Aufgaben werden heute von AI-basierten Agenten eigenständig übernommen. Unser Titelbild bspw. ist das Ergebnis eines intelligenten Systems, welches zuvor mit allen notwendigen Daten und Informationen zu den Bildern von Rembrandt gefüttert wurde und schliesslich das Porträt auf unserem Titelbild selbst entwarf.
- Mustererkennungen helfen schon heute in der Medizin Krankheiten genauer zu prognostizieren als dies ein normaler Facharzt kann. So lassen sich spezifische Sprachmuster nutzen, um frühzeitig erste Symptome von Alzheimer-Erkrankungen zu erkennen.
Wie steht es aber nun um die Anwendung der AI im Marketing? Sind wir mit unserer Disziplin und ihren oftmals beschworenen kreativen Elementen und innovativen Ansätzen vor dem Einsatz der AI geschützt? Deuten sich nicht bereits heute auch in unserem Feld massgebliche Fortschritte an, wenn AI-basierte Agenten die Mediaplanung und das Schalten von Anzeigen übernehmen (Stichwort: Programmatic)? Können Chatbots unsere Callcenter nicht massgeblich entlasten, wenn es um den so genannten „First-level-Support“ geht? Hilft es dem Nutzer nicht, wenn ein Sprachassistent ihm Antworten geben kann?
Sicherlich lassen sich auch die ersten kritischen Phänomene identifizieren. Wenn beim Online-Retailer Zalando 250 Mitarbeiter freigesetzt werden, um ihre Aufgaben anschliessend maschinellen Bots oder Agenten zu übertragen, dann wird sofort – ganz im aktuellen europäischen Zeitgeist – die Massenarbeitslosigkeit für das Marketing prophezeit. Und wenn dann Maschinen eingesetzt werden, um bestimmte Verhaltensweisen der Kunde zu prognostizieren, ist die Analogie zum Big Brother einmal mehr Inhalt der Diskussionen.
Diese kontroversen Perspektiven sind ein ergiebiges Feld, um den Stand der AI aus Sicht des Marketings zu diskutieren und zu analysieren. Mit Freude haben wir eine Vielzahl von Beiträgen erhalten, die mit ihren inhaltlichen Schwerpunkten wirklichen Tiefgang in einer aktuellen Debatte liefern und vielfältige Einblicke ermöglichen. Sicherlich sind die Erkenntnisse noch nicht abschliessend. Sie bieten aber einen guten Einblick in den aktuellen Stand der Diskussion. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre mit unserer aktuellen Ausgabe der Marketing Review St. Gallen.
Prof. Dr. Marcus Schögel